Der Mord

Es trug sich nun irgendwann zu, dass ein eifersüchtiger Wächter mit Denker-Einschlag auf eigene Faust patrouillierte, nämlich um seine Ex-Frau, eine Denkerin, zu beschatten, die einen neuen Liebhaber hatte. Auf Kilkhian kennt man diese Visha heute als Dilwan und Tyalva. Bei dieser geheimen Observation seiner noch immer Angebeteten wurde Dilwan Zeuge, wie sich ein älteres Urwesen an Tyalva heranmachte. Es handelte sich dabei um den schon öfter unangenehm aufgefallenen Kilkhian, wie Dilwan ein Wächter-Denker-Mischling - eine äußerst brisante Mischung. Tyalva wehrte sich zwar, aber die geschlechtlichen Visha waren den geschlechtslosen Urgeistern weit unterlegen, eine etwas unerfreuliche Nebenwirkung ihrer "Aufspaltung" in Geschlechter.

Dilwan sah seine Ex-Frau also in akuter Lebensgefahr, denn Kilkhian wollte sich eindeutig mit ihr paaren und damit billigend ihren Tod in Kauf nehmen. Er eilte ihr natürlich sofort zu Hilfe und wurde von Kilkhian ziemlich übel vermöbelt. Als dieser sich dann nach seinem Sieg wieder Tyalva zuwandte, raffte sich Dilwan noch einmal auf und ermordete seinen Gegner hinterrücks. Wie genau es möglich ist, dass ein körperloses Wesen ein anderes ermordet, ist mir noch nicht ganz klar. Gewissermaßen haben Geister ja doch eine Form, die aus Magie besteht und mit der Seele verknüpft ist. Irgendwie hat Dilwan jedenfalls geschafft, die magische Form zu zerstören oder zumindest die Seele herauszulösen.

Kilkhian war tot.

Dies blieb natürlich nicht lange unbemerkt. Auch andere Geister und Visha hatten etwas von Tyalvas Bedrängnis gespürt und kamen, um nach dem Rechten zu sehen. Der Anblick des toten Kilkhian war ein Schock ohne gleichen: Noch nie zuvor war einer der ihren ermordet worden! Man kannte Zwillingsgeburten und leider auch den Tod durch inkompatible Paarung, aber es gab zuvor niemals Gewaltakte gegeneinander.

Die Denker riefen einen großen Rat ein, die anderen Urgeister und Visha nahmen die Zuschauerplätze dieser Versammlung ein. Als allererstes wurde beschlossen, Kilkhians Überreste sofort zu entfernen. Ihre Gegenwart war zu bedrückend. Man nahm die Reste seiner magischen Hülle, pappte die hilflose Seele drauf und warf den ganzen Klumpatsch ins All. Aymalen, Kilkhians Gefährte, protestierte heftigst gegen diese Maßnahme, doch als Denker-Begleiter-Mischling hatte es nicht so viel zu melden wie die reinblütige Denker-Elite. Verzweifelt folgte es dem Leichnam ins All und damit ins Exil. Alle taten so, als merkten sie es nicht.

Der Rat fuhr mit seiner Sitzung fort. Es wurde lange debattiert, was mit Dilwan zu tun sei. Gerechterweise hätte man ihn töten sollen, fanden die meisten, doch niemand war bereit, das Notwendige dafür zu unternehmen. Andere waren dafür, ihm eine Möglichkeit zur Sühne zu geben. Irgendwann kippte die ganze Debatte um - der gesamte Rat bestand aus geschlechtslosen Urgeistern, und Kilkhian war unter ihnen als Denker-Wächter sehr beliebt gewesen, ein starker, schlauer Geist mit ungewöhnlichen Begabungen. Und nun war ein junger Vish, ebenfalls ein Denker-Wächter, dahergekommen und hatte ihn getötet. Und wer war der Auslöser? Eine Denker-Frau! Das Problem, befanden mehr und mehr, war eigentlich nicht der Mord, sondern das Geschlecht (interessant, dass niemand vermutete, dass die Ursache vielleicht im bei allen drei vorhandenen Faktor Denker steckt, oder?). Ohne Geschlecht wäre das ganze nicht passiert. Und nervten die Jungen nicht ohnehin mit ihrer ständigen Balzerei, den Eifersuchtsdramen, dem Getuschel über Äußerlichkeiten?

Der Rat hitzte sich auf. Aus einer Debatte wurde eine Hexenjagd. Schließlich wurden kurzerhand sämtliche Visha gepackt und auf Kilkhians Leichnam geworfen, der im Weltall herumtrieb und den Aymalen immer noch gewissermaßen umarmte. "Seht zu, dass ihr Kilkhian wieder zum Leben bekommt, dann lassen wir euch vielleicht zurück", war das letzte, was die Urgeister zu ihren Kindern sagten.

Damit begann die zweite der drei Welten. Und auch die dritte, denn diese ist Aymalens Körper, der sich bis heute an Kilkhians Leiche schmiegt.

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