Die Geister waren einst in drei streng getrennte Kasten eingeteilt. Bei der Geburt wurde jeder Geist automatisch einer Kaste zugeordnet und blieb sein Leben lang (also eigentlich für immer) in ihr. Die Zuordnung zur Kaste erfolgte über "äußerliche" Kriterien - die Geister können einander wahrnehmen und unterscheiden, und für sie gab es eben rein optisch drei Typen von Geistern. Da Äußerliches und Innerliches, also der Charakter, bei Geistern fest verbunden sind, lag eine Einteilung in Kasten mit verschiedenen Aufgaben nahe, um die Gemeinschaft möglichst effizient zu halten.
Die Kaste der Denker war praktisch die Regierung. Sie kümmerte sich um die Regeln des Zusammenlebens, sorgte bei Streitigkeiten für Vermittlung, bestimmte die Aufgaben der anderen beiden Kasten. Denker zeichneten sich durch einen sehr wachen Verstand aus und konnten sehr effektiv kommunizieren.
Die Kaste der Wächter war gewissermaßen die Exekutive der Denker. Sie sorgten in deren Auftrag für Ruhe, wenn Vermittlung im Guten nicht mehr möglich war. Vor allem aber hielten sie ständig Ausschau nach Bedrohungen von außerhalb. Ob es diese jemals gab oder ob die Denker ihre aggressiveren Artgenossen damit nur beschäftigt halten wollten, ist ungewiss. Wächter hinterfragten nicht, sie agierten.
Die dritte Kaste war die der Begleiter. Ihre Aufgabe bestand schlicht darin, dafür zu sorgen, dass es den Denkern und Wächtern an nichts fehlte. Ihre Fürsorge und Aufmerksamkeit kittete des öfteren Probleme, die zwischen den unterschiedlichen Temperamenten der Denker und der Wächter entstanden.
Diese Gesellschaftsstruktur existierte eine sehr lange Zeit. Irgendwann jedoch kam es so, wie es bei Lebewesen immer kommt: Es geschah etwas ungeplantes. In diesem Fall war es die Vermischung der Kasten, die für immer das Zusammenleben der Geister veränderte. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war es völlig undenkbar, dass sich ein Denker mit jemand anderem als einem anderen Denker paaren könnte. Man ging davon aus, dass dies nicht passen könne und nur zum Tod der Elternteile führen konnte. Eines Tages jedoch bewiesen ein Denker und ein Begleiter das Gegenteil dieser These und zeugten miteinander einen Mischling.
Dieses Ereignis sorgte natürlich für Aufsehen größten Maßes. Zum ersten Mal blickten alle Geister über den Rand ihrer Kaste und schauten sich bei den anderen nach potentiellen Partnern um. Das Leben wurde auf einmal aufregend. Viele fanden Gegensätze anziehend, andere fanden erstaunliche Gemeinsamkeiten mit Vertretern anderer Kasten. Schnell entstanden weitere Mischgeister, und bei jedem stand die Denker-Regierung vor dem großen Problem, es einer Kaste zuzuordnen. Einige waren sprichwörtlich bunt gemischt und passten nirgendwo hinein. Andere wiederum sahen zwar aus wie typische Vertreter einer Kaste, hatten aber einen völlig anderen Charakter. Für Aufsehen sorgte zum Beispiel ein gewisser Geist namens Kilkhian, der zwar aussah wie ein äußerst intellektueller Denker, sich aber eher wie ein ziemlich rüpelhafter Wächter benahm.
Perfekt wurde die Kastenverwirrung, als die Mischlinge begannen, sich untereinander oder aber mit Kastengeistern zu verpaaren. Nach und nach entstand so eine gespaltene Gesellschaft: Die reinen Denker bildeten nach wie vor die Regierung, die reinen Wächter gingen ihrer ordnenden Funktion nach. Doch die reinen Begleiter waren mehr und mehr damit beschäftigt, die Mischlinge zu beruhigen, die sich unnütz vorkamen, weil sie keine oder aber die falsche Aufgabe hatten. Es kam am Ende zu einem regelrechten Aufstand der Begleiter, von dem sowohl Denker als auch Wächter völlig überrumpelt wurden, und für eine gewisse Zeit versank die Ursphäre in Anarchie. Es war allen klar, dass die Ordnung der Kasten nie wieder funktionieren würde und dass daher dringend eine neues ordnendes Prinzip hermusste, doch keine Idee konnte sich durchsetzen - denn die Ideen kamen allesamt von reinblütigen Denkern, die einfach nicht aus ihrer Haut konnten und allen anderen das Recht absprachen, Ideen zu haben oder gar offen auszusprechen.
Kurz gesagt fürchtete jeder um seine eigene Wichtigkeit und torpedierte damit gründlich die Gesellschaft. Und wahrscheinlich würden sie sich heute noch darüber wütend anfauchen, wenn nicht eine weitere Neuerung eingetreten wäre: Das Geschlecht.
Weiter: Visha
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