Als Eğrik erwachsen geworden war, machte er sich eines Tages auf eine Reise nach Anoramila, das war damals das Land des Königs von Yador. Es war ein sehr weiter Weg, denn das Gebirge von Ranell trennt die Westküste Yadors vom Königsland, und so kann man entweder auf einem Schiff das Nordkap umrunden oder auf der Königsstraße reisen, die viele Kurven macht und durch das unwegsame Gebirge führt. Eğrik hatte sich für den zweiten Reiseweg entschieden, und so machte er sich im Frühjahr zu Fuß auf den Weg, weil seine Familie keines der wenigen Arbeitspferde entbehren konnte.
Als er nun mitten in den Bergen war, überraschte ihn ein später Schneesturm, und er verlor im dichten Gestöber aus Flocken und Wind den Weg. So kam es, dass er einen Fehltritt machte und in eine vom Schnee verwehte Felsspalte trat und den Halt verlor, und er konnte sich gerade noch an einem Felsvorsprung festhalten, sonst wäre er in die tiefe Spalte gestürzt und wohl nie wieder herausgekommen, sondern zerschmettert als Wolfsfutter liegengeblieben.
So war er nun zwar dem Tod entronnen, doch seine Lage war mehr als misslich, denn er konnte sich an der überhängenden Wand nicht hochziehen, und die Kraft seiner Arme wurde immer schwächer. Da fiel ihm seine Begegnung mit dem Drachen ein, und so rief er so laut er konnte in den Sturm hinein: "Awnkledan! Awnkledan, ich brauche deine Hilfe!"
Er wartete und wartete, solange es seine Kräfte erlaubten, und als seine Hände ihm gerade den Dienst versagen wollten, fühlte er, wie schreckliche Klauen vorsichtig seine Schultern ergriffen, und dann hörte er das Rauschen von mächtigen Flügeln und er wurde durch die Luft getragen und in schwindelerregender Höhe auf einem Felsvorsprung abgesetzt. Eğrik wandte sich dem Drachen zu um sich zu bedanken, doch da blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, denn es war nicht Awnkledan, sondern ein anderer Drache: doppelt so groß wie der Grünblaue aus der Höhle und schwarz wie die finsterste Winternacht.
Der Drache schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an und zischte: "Woher kennst du den Namen eines Mitglieds meines Volkes?"
Voller Angst wisperte Eğrik: "Ich habe ihm einst das Leben gerettet, und so sagte er mir seinen Namen, damit er seine Schuld eines Tages zurückzahlen könne."
Der Drache senkte den Kopf, um Eğrik besser betrachten zu können. "Dann musst du der Junge aus der Höhle sein", sagte er mit seiner heiseren Stimme, die wie Donner klang.
Eğrik bejahte dies, und so fuhr der Drache fort: "Es ist bei uns nicht üblich, unsere Namen zu verraten, denn sie allein geben anderen Wesen Macht über uns. Der Drache, nach dem du gerufen hast, ist heute weit fort von diesem Gebirge im fernen Süden, und so konnte er dich nicht hören. Ich kam, um zu sehen, welches Menschenwesen es wagt, den Namen eines Drachen auszusprechen, und um es dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Da du aber rechtens an seinen Namen gekommen bist, werde ich dich nicht bestrafen. Bedenke jedoch: Solltest du je seinen Namen an andere weitergeben, werde ich persönlich kommen und dich für deinen Verrat bestrafen."
"Ich werde nichts tun, was dich verärgern könnte", versicherte Eğrik, und der Drache stieß ein merkwürdiges Grollen aus, das wohl ein Lachen war.
"Das sagst du jetzt, wo du mich siehst und vor Angst schlotterst. Denke aber auch daran, wenn du weit entfernt bei deiner Familie bist."
"Ich verspreche es", sagte Eğrik.
Der Drache neigte den Kopf zur anderen Seite und blinzelte. "Ein seltsames Zweibein bist du, mutiger als die meisten Krieger, die fliehen, wenn sie mich sehen."
"Wenn du mich hättest töten wollen, hättest du mich nur an dem Felsvorsprung hängen lassen müssen", gab Eğrik zurück, worauf der Drache abermals sein grollendes Lachen ausstieß.
"Klug gesprochen, Zweibein. Dann lass dir auch sagen, dass dein Volk mich Kalém nennt, den Fürst der Drachen."
Eğrik sah dem Drachen fest in die Augen und nannte seinen Namen. Kalém nickte. "Du solltest vorsichtig sein, welchem Drachen du deinen Namen sagst, denn nicht alle von uns sind so freundlich zu den Menschenwesen wie ich. Aber ich nehme deinen Namen als Versicherung, dass du keinem aus meinem Volk Schaden zufügst."
"Das kannst du tun", sagte Eğrik, "doch es wird nicht nötig sein. Ich sehe keinen Grund, einen von euch zu verraten."
"Wahrhaftig, eine weise Entscheidung," sagte Kalém, und seine grünen Augen funkelten amüsiert. Dann öffnete er seine mächtigen Schwingen und ergriff Eğrik abermals an den Schultern. "Du willst auf die Ostseite der Berge, nicht wahr? Nun gut. Sag mir, wenn du eine Pause brauchst." Und damit schwang sich Kalém mit Eğrik in die Luft, hinein in den Schneesturm, und flog über die Berge hinweg nach Osten. Mehrere Male bat Eğrik um eine Rast, denn der eisige Wind zehrte an seinen Kräften, und Kaléms Klauen ließen seine Schultern schmerzen, doch am Ende des Tages hatten sie die höchsten Lagen des Gebirges überquert, und so setzte der Fürst der Drachen ihn auf einem grasbewachsenen Berghang ab. Dicht unter ihm begann der Elfenwald des Ostens, und in der Ferne sah Eğrik das Glitzern von Wasser.
"Das ist Mewanmila, das Königsmeer", sagte Kalém. "Dort findest du Höfe und Dörfer, wo du dich erholen kannst."
Eğrik bedankte sich für die Hilfe des Drachenfürsten, und der schwang sich wieder in die Lüfte und flog zurück in die Berge.
Die Rechte an den Texten und Bildern dieser Seite liegen bei Dorte Schünecke
(ausgenommen speziell gekennzeichnete).