Eğrik blieb im Königsland, denn zu jener Zeit war das Leben dort leichter und fröhlicher als irgendwo sonst in Yador, und so errichtete er einen kleinen Bauernhof am Königsmeer, den er bewirtschaftete. Er war schon einige Jahre in Anoramila, als man von einem räuberischen Drachen hörte, der die Dörfer heimsuchte und Tiere und Menschen fortschleppte, um sie zu fressen. Eğrik beschloss, sich dieses Ungeheuer einmal aus der Nähe anzusehen, auch wenn alle Menschen um ihn herum ihn einen leichtsinnigen Toren nannten: "Keiner, der noch seinen Verstand hat, geht freiwillig zu einem mordenden Drachen", sagten sie, doch Eğrik schlug ihre Warnungen in den Wind und machte sich auf den Weg, denn die Sehnsucht, wieder einen Drachen zu sehen, war seit Jahren ständig gewachsen.
Er erreichte eines der zerstörten Dörfer und erfuhr, dass sich der Drache auf einer Waldlichtung in der Nähe niedergelassen hatte und dort ruhte.
"Wenn er schläft, warum schickt ihr nicht Krieger hin und lasst ihn erschlagen?", fragte Eğrik.
"Weil sich niemand in die Nähe traut", antworteten die Dorfbewohner.
"Dann werde ich gehen", sagte Eğrik, ließ sich einen Speer, ein Pferd und ein Schwert geben und ritt los.
Schon von weitem konnte er die Schuppen des Drachen in der Sonne glitzern sehen, und so saß er von seinem Pferd ab und schlich vorsichtig näher. Der Drache lag zusammengerollt auf der Lichtung und schien friedlich zu schlafen, denn seine Augen waren geschlossen und sein Körper hob und senkte sich langsam bei seinen Atemzügen. Eğrik fasste seinen Speer, doch er wagte nicht, ihn zu werfen, denn er war nur ein Bauer und nicht geübt mit dem Gebrauch von Waffen. Auch fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, dieses Wesen im Schlaf zu töten, denn trotz allem war es doch ein herrliches Geschöpf.
Während Eğrik noch zögerte, erwachte der Drache, da er ihn im Halbschlaf gewittert hatte. Er war jedoch schlau, und so stellte er sich weiterhin schlafend und öffnete lediglich sein Auge einen Spalt, um seinen Angreifer besser sehen zu können.
"Ach, was mache ich nur?", seufzte Eğrik vor sich hin. "Wenn ich warte, bis er aufwacht, kann ich ihn unmöglich besiegen, aber wenn ich ihn im Schlaf ersteche, ist es eine schmutzige Tat, und ich werde zu einem Mörder."
"Dann will ich dir deine Entscheidung abnehmen", knurrte der Drache und warf sich geschmeidig wie eine Katze auf Eğrik, so dass dieser stürzte und zu Boden fiel. Der Drache hielt ihn mit einer Klaue auf dem Boden fest und beugte sich über ihn. "Um einen Drachen zu töten, braucht es mehr als eine scharfe Speerspitze", zischte er Eğrik an.
"Wem sagst du das?", antwortete Eğrik wehmütig. "Als ich kam, hast du fest geschlafen und es wäre keine Mühe gewesen, dich zu erstechen. Aber ich tat es nicht, und zum Dank dafür willst du mich jetzt fressen. Ach, wäre ich doch nicht hierher gekommen, hätte ich doch nur auf die Krieger des Königs gewartet!"
"Krieger?", fragte der Drache misstrauisch. "Wann kommen sie?"
"Das soll ich dir jetzt auch noch sagen, damit du sie genauso töten kannst wie mich? Sollen sie doch kommen und dich in Teile zerhacken, wie du es mit den Leuten aus den Dörfern getan hast!"
"Ich hatte Hunger, und so habe ich gegessen."
"Warum kannst du nicht wie die anderen Drachen jagen? Warum musst du unsere Dörfer angreifen und unsere Kinder verschleppen?"
"Es macht weniger Mühe", grunzte der Drache, und seine Augen funkelten mit dunkler Freude. "Und nun genug davon. Ich bin zwar satt, doch ein kleiner Happen wie du passt immer noch in meinen Bauch."
Da erklang ein Geräusch, wie es Eğrik noch nie zuvor gehört hatte: Wie ein donnerndes Kreischen war es, ohrenbetäubend laut vor Wut, so dass es schien, als ob die Luft vor Angst erbleiche. Dann schoss ein Drache vom Himmel herab und hieb seine Klauen in den anderen Drachen, der Eğrik gerade verspeisen wollte. Die beiden mächtigen Wesen kämpften miteinander, doch der Mörderdrache war seinem um drei Mannlängen größeren Gegner klar unterlegen, so dass er bald die Flucht ergriff.
Eğrik hatte sich währenddessen wieder auf die Beine gerappelt und schaute seinen Retter an. Es war Awnkledan.
"Grüß dich, Junge aus der Höhle", sagte der. Er war seit dem Tag damals gewachsen und maß nun fast fünfzehn Mann.
Eğrik lächelte ihn an. "Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen. Danke, alter Freund, du hast nun mein Leben gerettet und deine Schuld beglichen."
Awnkledan blinzelte. "Freund? Ein seltsames Wort von einem Zweibein. Doch es war Zufall, dass ich dein Leben retten konnte, denn ich hörte von den Angriffen auf friedliche Dörfer, und es nicht die Art der Drachen, solches zu tun."
"Dennoch hast du mich gerettet, und dafür bin ich dir dankbar."
"Daran kann ich dich nicht hindern", sagte Awnkledan, und seine grauen Augen blitzten grünlich auf, als ob er leise lachen würde. "Doch was gedenkst du nun zu tun? Ich hörte, dass du schon unseren Fürsten Kalém getroffen hast."
"Auch er rettete mir das Leben. Es scheint, als ob das zu einer Gewohnheit werden könnte", antwortete Eğrik, und Awnkledan grollte ein Lachen.
"Mag sein. Doch es ist wahr, selten gab es solche Bande zwischen Menschen und Drachen wie bei dir. Wir haben unsere Schuld beglichen und könnten nun jeder seiner Wege gehen, doch würde ich dies bedauern. Die Menschen beginnen uns zu hassen, wenn sie von grausamen Drachen wie diesem hier hören. Du könntest uns helfen, denn wenn wir auch große und mächtige Wesen sind, so sind wir doch im Schlaf euren Waffen schutzlos ausgeliefert. Und wir lieben es nicht zu kämpfen, besonders, wenn der Gegner eines der sprechenden Wesen ist."
"Verbrecher und Verräter gibt es in jedem Volk, nicht nur bei den Drachen. Ich kenne dich und Kalém, und ihr seid sicher keine gedankenlosen Mörder."
"Dann willst du uns helfen, Freund?"
Eğrik schaute den Drachen nachdenklich an. "Ja, wenn ich dir meinen Namen sagen darf. Denn du schuldest mir nichts mehr, und es wäre ungerecht, wenn ich mehr Macht über dich hätte als du über mich."
Awnkledans Augen wurden blaugrau. "Sehr freigiebig mit deinem Namen bist du, denn wie ich hörte, hast du ihn schon Kalém gesagt. Aber gut, wenn du es wünschst, sage ihn mir." So nannte Eğrik seinen Namen, und Awnkledan kam näher und berührte ihn mit seiner Klaue. "Nun gut, Eğrik, dann sei dir meiner Freundschaft und meines Schutzes gewiss, wo immer du auch hingehen magst."
Eğrik legte seine Hand auf die Schulter des Drachen und antwortete: "Und ich verspreche, dir und deinem Volk zu helfen, wenn ich es kann."
"So sei es denn, Bruder Zweibein."
Und so ringelte sich Awnkledan auf der Lichtung ein, während Eğrik sich ein Lager für die Nacht machte; und als am nächsten Morgen die Krieger des Königs kamen, staunten sie nicht schlecht, den Bauern Eğrik friedlich schlafend zwischen den Klauen eines fünfzehn Mann langen Drachen zu finden.
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