Die nächsten Tage verbrachten Awnkledan und sein Reiter damit, hoch über das Meer und die Inseln Shridanors dahinzugleiten und nach Awnkledans Gefährtin Ausschau zu halten. Nachts landete der grünblaue Drache auf kleinen Inseln, obwohl er selbst schon wieder kräftig genug war, tagelang ohne Pause zu fliegen.
„Aber, Bruder Zweibein“, sagte er zwinkernd zu Eðrik, „ich glaube, dass du schon deine Glieder ab und zu strecken willst, und auch Futter und Wasser willst du bestimmt ab und zu haben, oder?“
Ansonsten sprachen sie nicht viel miteinander. Während des Flugs waren beide zu sehr mit Suchen beschäftigt, und nachts war Eðrik zu müde, um sich mit seinem Freund zu unterhalten. Doch nach und nach bedrückte ihn das Schweigen, und so sprach er den Drachen eines Mittags an, als sie wieder einmal tief über bewaldete, unbewohnte Inseln daherglitten.
„Hör mal, geflügelter Bruder“, sagte Eðrik, „wir haben jetzt bald das gesamte nördliche Inselreich durchkämmt, doch ich habe nicht einmal die Schuppe irgendeines Drachen gesehen, geschweige denn deine blausilberne Freundin. Warum habt ihr keinen Treffpunkt vereinbart? Sind Drachen etwa weniger weise als mein Volk?“
Awnkledan schnaufte, doch als er seinen Kopf nach hinten drehte und Eðrik aus einem Auge anschielte, funkelten seine Augen blitzblau auf, und ein Lächeln lag in ihnen. Aber es war ein trauriges Lächeln. „Weise sind wir, Bruder Zweibein“, antwortete er, „doch bin ich weniger weise, als es gut für mich wäre, fürchte ich. Denn vor einiger Zeit stritt ich mich furchtbar mit der Silberblauen, und als sie wütend davonflog, rief sie mir noch zu, dass sie mich im Inselreich erwarten würde, wenn ich sie eines Tages wiedersehen wollte. Doch wo, das hat sie nicht gesagt.“
„Worum ging denn euer Streit?“, fragte Eðrik mitleidig.
„Um dies und das“, seufzte Awnkledan, „wie man sich eben streitet.“
„Erzähl mir von ihr“, bat sein Reiter. „Wie habt ihr euch kennengelernt?“
Der Drache blickte wieder nach vorne und schwieg eine Weile. Dann begann er zu erzählen: „Ich kenne sie schon, seit ich ein kleiner Schlupfdrache weit im Süden war, wo das Wasser vor der Sonne flieht und die Sterne klarer funkeln als Diamanten. Wir sind nahezu gleich alt, würdet ihr Menschenkinder wohl sagen, und wie es bei jungen Drachen so üblich ist, taten wir uns mit einigen anderen Jungdrachen zusammen, um besseren Schutz vor bösen Wesen zu erlangen, die uns verletzen können.“
„Aber kann denn überhaupt ein Wesen einen Drachen verletzen?“, fragte Eðrik.
„Natürlich! Ich habe doch selbst den Drachen in Anoramila bekämpft! Und der Ausgestoßene am Feuerberg hat uns in die Flammen getrieben und uns beinahe getötet. Auch Drachen kämpfen, jedoch weniger als Menschen. Doch auch unsere Tanten und Onkel, die Visha, die Geistwesen und Hüter der Erde, können uns verletzen und töten, und einige von ihnen hassen unsere Art und jagen uns. Deswegen waren wir zu sechst dort unten in den Feuerländern unserer Jugend, doch Silberblau und ich waren schon damals die meiste Zeit zusammen, und wenn die anderen vier schliefen, lagen wir noch wach unter den Sternen im Sand vergraben und erzählten uns unsere Gedanken. Ich sang ihr auch oft Lieder. Sie mochte meine Lieder sehr gerne, obwohl ich nicht der geschickteste Dichter bin.
So verbrachten wir einige Zeit - lange Zeit für euch Menschen, denke ich; jedenfalls wuchsen wir langsam zu ausgewachsenen Drachen heran, und damit war für uns die Zeit gekommen, unsere kleine Herde aufzulösen und die Welt jenseits der Sandmeere zu erkunden. Krummflügel verließ uns als erster, und Grünschupp folgte ihm bald; sie flogen gen Süden, in die Tiefen der Welt jenseits der Sande, die noch kein Menschenvolk betreten hat. Weißrücken wandte sich gen Osten und Große nach Westen. Doch Silberblau und ich beschlossen, zusammen durch die Welt zu ziehen und flogen nach Norden, über das große Gebirge und die weiten Ebenen und Wälder bis hin nach Yador, und dort ließen wir uns in den Bergen von Ranell wieder, in eben der Höhle, in der du mich getroffen hast.“
„Dann ist es Zufall, dass wir uns nicht früher begegnet sind“, unterbrach Eðrik, „denn dort oben habe ich schon öfter Schafe gehütet.“
Die Augen des Drachen funkelten grün. „Das mag schon sein, Bruder Zweibein, doch warst du noch ein Kind, als wir uns trafen, und da war meine Gefährtin schon eine Weile fort. Doch lass mich weiter erzählen.
Dort in der Höhle jedenfalls lebten wir eine Weile, und es war eine schöne Zeit. Wir jagten zusammen auf den Hochebenen, badeten in den Flüssen und Seen des Gebirges und flogen um die Wette so hoch, wie wir nur konnten. Junge Drachen können sehr albern sein, Bruder Zweibein, vor allem, wenn sie verliebt sind.“
Awnkledan grunzte, und Eðrik dachte sich, dass das wohl ein drachisches Kichern sein sollte. „Jedenfalls ging lange alles gut, und ich liebte sie von Tag zu Tag mehr und brachte ihr Geschenke und sang ihr Lieder, doch ich begann, Fehler zu machen. Ich wurde eifersüchtig. Wenn andere Drachen uns besuchen kamen, war ich unfreundlich und schickte sie rasch wieder fort, denn ich wusste, wie schön Silberblau nach den Maßstäben meines Volkes war, und sie wusste es auch. Doch ich war jung und dumm. Ich sah nicht, dass sie mich ebenso liebte wie ich sie, und indem ich versuchte, sie noch mehr an mich zu binden, verlor ich sie.“
Eðrik strich mit seiner Hand über den Rücken des Drachen. „Armer geflügelter Bruder“, murmelte er, „konntest du ihr deinen Fehler nicht erklären?“
„Nein, das konnte ich nicht“, seufzte der Drache, „denn sie verstand sehr wohl, warum ich das tat, doch sie missbilligte es. Sie hatte gerne Gesellschaft, doch ich vertrieb stets alle Besucher, selbst Kalém und andere mächtige Drachen. Doch eines Tages reichte es ihr, und sie flog einfach davon und meinte nur, dass es wohl an der Zeit sei, dass ich erwachsen werde, und dass sie mir dabei anscheinend nicht helfen könne. Ich war wütend! Ich war so wütend, dass ich einige Jahre planlos umherflog, bevor ich nach Hause zurückkehrte, und dort war ich noch immer so wütend, dass ich nicht achtgab und in einem Wutausbruch den Steinschlag auslöste, von dem du mich damals als Kind befreit hast.“
„So war das also!“, rief Eðrik aus. „Ich hatte mich schon gewundert, wie der Stein auf dich gekommen war, denn Erdbeben gibt es ja nicht in den Bergen meiner Heimat.“
„In der Tat. Nun, nachdem du mich befreit hattest, hatte ich ja einige Zeit, meine Gedanken zu ordnen, und nach und nach fasste ich den Entschluss, Silberblau zu suchen und sie um Vergebung zu bitten. Dann traf ich dich, und ich dachte mir, ein Reisegefährte sei doch sehr angenehm bei dieser schwierigen und recht aussichtslosen Suche. Und so haben wir uns auf den Weg gemacht.“
Eðrik seufzte und reckte seine steifen Glieder etwas. „Eine traurige Geschichte erzählst du mir da, geflügelter Bruder“, meinte er nachdenklich, „doch ich glaube, ich kann dich verstehen, auch wenn ich selbst noch nie wahrhaftig verliebt war. Und ich werde dir so lange bei der Suche helfen, wie du mich dabeihaben willst.“
Der Drache blinzelte liebevoll nach hinten. „Ich weiß wohl, warum ich dich als meinen Reiter erdulde, Eðrik“, sagte er dann leise, „und wahrhaftig, ich wünschte, du hättest eigene Flügel, um neben mir zu fliegen, anstatt wie ein hilfloses Tier zwischen meinen Flügeln zu kauern.“
„Es kauert sich sehr bequem hier“, lachte Eðrik, doch insgeheim seufzte er, denn in ihm war der Wunsch erwacht, einmal selbst auf so mächtigen Schwingen durch die Lüfte zu gleiten, dem Wind zu trotzen und mit ihm zu spielen oder auf ihm zu reiten.
„Das beruhigt mich“, gab Awnkledan zurück, und seine Augen leuchteten mit einem sanften Grün. „Doch was mich beunruhigt, ist, dass ich weder Silberblau gefunden habe noch andere Drachen, die ich nach ihr hätte fragen können. Es scheint, dass alle Drachen Shridanor verlassen haben, und da bleibt mir eigentlich nur eins übrig: nach Süden zu fliegen, in das südliche Inselreich, und dort weiter nach Spuren zu suchen, es sei denn, wir zwei wollen den weiten Weg zurück nach Yador alleine zurücklegen, was ich nicht annehme.“
„Wirklich nicht, nein, geflügelter Bruder, das muss nicht sein“, sagte Eðrik und erschauderte bei dem Gedanken, die endlose Wasserwüste ohne die Kraft von Kalém und der Goldenen zu durchqueren. „Doch meinst du wirklich, dass du sie im Süden finden wirst?“
„Denk an den seltsamen Wind, der uns stets nach Süden getragen hat und der noch immer streng und kühl von Norden bläst“, antwortete Awnkledan, „vielleicht hat er auch die anderen fortgetragen.“
„Dann lass es uns versuchen“, meinte Eðrik, „auch wenn der Süden des Inselreichs fast ebenso seltsam sein soll wie das magische Elfenreich des Festlandes.“
Awnkledan lachte. „Das mag schon sein. Doch weiß man wenig an Wahrheiten über diese Länder, und ich bin gewillt, mehr über sie zu erfahren.“
„Das bin ich auch, geflügelter Bruder, denn mein Volk erzählt sich viele Märchen und Legenden über diese Gegend: man sagt, dass dort die Heimat meines Volkes lag, lange Zeit, bevor es zuerst ins nördliche Inselreich und von dort nach Yador auswanderte. Wer weiß, es mag sein, dass ich entfernte Verwandte dort treffe.“
„Mag sein“, meinte der Drache, „doch ich glaube es nicht. Kein Drache hat seit langer Zeit von Menschenwesen auf den südlichen Inseln gehört. Doch anderes seltsames Volk soll dort leben: von Meereselfen erzählt man sich, die auf Flößen auf dem Meer leben; und von zauberndem Wasservolk, halb Fisch oder Vogel, halb Menschenwesen.“
„Nun, geflügelter Bruder, dann lass uns doch die Geheimnisse des Südens erkunden, gleich, ob wir Silberblau finden oder nicht. Doch natürlich“, beeilte sich Eðrik zu versichern, „natürlich wünsche ich dir, dass du sie findest, auch wenn das bedeutet, dass sich unsere Wege wieder trennen.“
„Nur für eine Weile, wenn überhaupt“, antwortete Awnkledan, „denn es ist nicht die Art von Drachen, neue Freunde für eine alte Liebe aufzugeben, wenn man beides haben kann.“
Damit änderte der Drache abrupt seinen Kurs und hörte auf, gegen den Nordwind zu kreuzen, sondern gab sich seinem Weg hin und ließ sich hoch in der Luft von ihm tragen, so dass die weit entfernten Flecken der Inseln im blauen Tuch des Meeres unter ihnen dahinschossen wie Blätter, die auf einem Bach treiben.
Die Rechte an den Texten und Bildern dieser Seite liegen bei Dorte Schünecke
(ausgenommen speziell gekennzeichnete).