Eğrik Dayilkishal

Eğrik der Drachenherr

1: Die Höhle in Yador

Vor langer Zeit, als es in Yador noch einen König gab, lebte im Westen des Landes ein Junge namens Eğrik. Seine Familie wohnte auf einem einsam gelegenen Hof dicht an den Bergen, nahe beim Fluss Nean, der später bei Algath ins Meer mündet. Sie waren arm, so wie es fast alle in Yador sind, denn dieses nördliche Land ist karg und felsig, und harte Winter tun das Übrige, um Bauern das Leben schwerzumachen. Aber es war schon damals ein freies Land, und so blieben die Menschen dort, die Freiheit dem Reichtum vorzogen, und das waren immer gute Menschen.

Eğrik war eins von vielen Kindern, die alle halfen, die Familie durch die Winter zu bringen, sobald sie sicher auf den Füßen standen. Eğriks Aufgabe war die des Hirten. Er verbrachte viel Zeit mit den Schafen, die im Sommer auf den Gebirgsweiden die spärlichen, aber kräftigen Kräuter und Gräser fraßen, und so war er meist alleine. Während die Schafe grasten, spielte er auf seiner Flöte, döste oder erkundete die Umgebung. Eines Tages, als er die Schafe gerade auf eine neue Weide getrieben hatte, fand er beim Herumstromern eine tiefe Höhle, deren Eingang sich wie ein Palastgewölbe aus dem Fels erhob. Eğrik hatte noch nie so ein großes Tor gesehen und wurde neugierig, und so betrat er die Höhle vorsichtig, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Schafe ruhig nach den besten Halmen suchten.

Er hatte kein Licht bei sich, denn es war Sommer, und da wird es in Yador fast nie dunkel. Also musste er sich an der Höhlenwand entlangtasten, je weiter er in die Dunkelheit hineinging, denn was als große Halle begann, wurde schnell zu einem schmalen Gang durch den Berg.

Er wollte gerade umkehren, denn seine Schafe waren ja alleine, und die Bergwölfe würden dies irgendwann bemerken, da sah er vor sich ein rotes Glimmen. Eğrik fürchtete sich, denn ein Feuer im Berg konnte nur Magie oder aber einen Vulkan bedeuten, doch die Neugierde siegte und er ging vorsichtig auf das schwache Glühen zu. Es wurde heller, je näher er kam, so dass er den schmalen Gang besser sehen konnte. Plötzlich öffneten sich die Wände, und er stand in einer großen gewachsenen Felsenhalle. Von der Decke hingen Tropfsteine in den verschiedensten Farben, die in dem rötlichen Licht glitzerten.

Und nun sah Eğrik, dass die Quelle des Lichts weitaus fantastischer war als eine Ader der Erdglut: Am hinteren Ende der Höhle lag ein leibhaftiger Drache, der ihn aus den Augenwinkeln musterte. Immer wenn er ausatmete, stieß er aus seinem Maul eine kleine Flamme aus, die die trockenen Blätter auf dem Boden der Höhle in Brand setzten. Eğrik erschrak zutiefst und rannte aus der Höhle, so schnell ihn seine Beine trugen, und draußen zog er seine Flöte hervor und gaukelte sich und den Schafen vor, dass nichts besonderes geschehen sei.

Doch der Schreck verflog mit der Zeit, und als die Mittagsstunde vorbei war, packte ihn wieder seine Neugierde, und so betrat er abermals die Höhle, diesmal aber schlich er auf Zehenspitzen und wagte kaum zu atmen. Unter äußerster Vorsicht erreichte er die große Halle und lugte nur vorsichtig hinein. Der Drache lag noch immer da, ein grünblau geschupptes Wesen, mehr als zehn Mann lang. Seine Augen waren jetzt geschlossen, doch noch immer atmete er Feuer aus. Als Eğrik das riesige Tier näher betrachtete, sah er, dass es halb unter einem großen Felsblock eingeklemmt war, der sich anscheinend von der Decke gelöst hatte. Eğrik schlich vorsichtig näher, doch auf halbem Weg stolperte er über einen kleinen Geröllhaufen, und der Drache öffnete die Augen.

Eğrik stand einen Moment wie erstarrt vor Schreck und warf sich dann herum, um abermals wegzulaufen, doch da öffnete der Drache sein Maul.

"Warte, Junge!", rief er Eğrik erstickt nach, und obwohl Eğrik vor Angst schlotterte, blieb er in sicherer Entfernung stehen.

"Tu mir nichts", sagte er mutiger, als er sich fühlte, "oder ich hole Krieger aus Ahelgand." (Das war damals der Name der Stadt, die heute Algath heißt.)

Der Drache schnob eine Rauchwolke aus seinen Nüstern. "Wie sollte ich dir etwas tun? Seit sechs Tagen bin ich hier jetzt eingesperrt, seit dieser Felsen auf mich gefallen ist, und seitdem kann ich mich um keinen Schritt bewegen."

Eğrik schaute den eingeklemmten Drachen an, und als er sah, wie mühsam er atmete, bekam er Mitleid und trat vorsichtig etwas näher. "Kannst du ihn nicht abschütteln? So groß sieht er gar nicht aus."

Der Drache schnaufte. "Das habe ich versucht, doch er drückt auf meine Schultern, so dass ich mich fast gar nicht bewegen kann." Eğrik sah, wie sich die Muskeln des riesigen Tieres anspannten, und der Felsen bewegte sich leicht, doch dann erschlaffte der Drache erschöpft. "Siehst du? Es geht nicht."

"Du Armer." Eğrik trat nun nahe an den Drachen heran. "Tut es sehr weh?"

"Zu Anfang schon, doch jetzt nicht mehr", antwortete der Drache müde. "Ich fühle meine Beine kaum noch, weil ich hier schon so lange liege. Und ich werde immer schwächer. Willst du mir helfen?"

Eğrik schaute den großen Felsen skeptisch an und überlegte fieberhaft. Da kam ihm eine Idee. "Versprichst du, dass du weder mir noch meinen Schafen etwas tust, wenn ich dich befreie?", fragte er.

"Natürlich!", schnaufte der Drache. "Mein Volk war es schließlich, welches das Wort für ‚Ehre’ erfand!"

"Dann warte hier!", rief Eğrik und rannte aus der Höhle. Nicht weit von der Bergweide entfernt hatten nämlich vor kurzem einige Männer Bäume gefällt, und dort lagen noch viele starke und lange Äste herum. Eğrik nahm sich einen der kräftigsten und schleppte ihn in die Höhle. Die Augen des Drachen leuchteten auf, als er Eğriks Last sah. Mit großer Anstrengung hob Eğrik den Ast. "Spann deine Muskeln an", sagte er zum Drachen, und als der Felsen sich deswegen leicht bewegte, schob er den Ast unter den Felsen, so dass das andere Ende vor ihm in der Luft hing.

"Wenn ich jetzt sage, versuchst du, ihn abzuschütteln", sagte er, und der Drache nickte. Also packte Eğrik das freie Astende mit beiden Händen. "Jetzt!", rief er und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Ast, während der Drache einen Katzenbuckel machte. Tatsächlich bewegte sich der Felsen, zuerst nur ein wenig, doch als der Drache sich verzweifelt wand, verlor der Steinblock das Gleichgewicht und rollte an der Flanke des Drachen hinab auf den Boden.

Eğrik ließ sich erschöpft, aber zufrieden zu Boden sinken, während der Drache seine mächtigen Flügel ausbreitete und sich streckte und stöhnte.

"Ich danke dir", sagte er schließlich und berührte Eğriks Schulter vorsichtig mit der Spitze seines Flügels. "Ich verdanke dir mein Leben, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Wenn du mich einmal brauchen solltest, ruf meinen Namen, und wenn ich kann, werde ich kommen. Ich heiße Awnkledan."

Damit faltete Awnkledan seine Flügel zusammen und glitt durch den schmalen Gang aus der Höhle hinaus ins Freie.


Weiter zu Teil 2