Über Drachen

Drachen schlüpfen zweifellos aus Eiern. Ich weiß, daß einige sehr gescheite Menschen heute der Ansicht sind, daß Drachen wie Menschen und Hunde lebendig geboren werden oder verbannte Dämonen sind. Viele sind auch der Meinung, daß Drachen überhaupt nicht geboren werden, da sie nur Sagengestalten sind. Naja, man sieht sie heute ja auch nicht mehr so oft wie früher. Aber sie schlüpfen definitiv ohne jeden Zweifel ausnahmslos aus Eiern. Sie sind weder Tränen eines Riesen noch verhexte Adler. Sie sind einfach nur Drachen, und sie schlüpfen aus Eiern.

Das heißt, so ganz stimmt das nun wieder auch nicht. Die Drachinger schlüpfen aus den Eiern. Und zwischen Drachingern und Drachen ist, wie jedes Kind weißt, ein himmelweiter Unterschied. Das weiß, wie gesagt, jedes Kind. Also nehm ich an, daß keiner von euch Ahnung hat, was Drachinger sind. Also noch einmal für die Erwachsenen, oder besser für die, die sich dafür halten: Drachinger haben noch keine richtigen Flügel, sondern Stummel, mit denen sie sich in der Wüste von Khinea eingraben können. Da werden nämlich fast alle Drachinger geboren, und das aus gutem Grund: sie sind feurige Wesen und mögen eben kein Wasser. Es ist übrigens ein Hirngespinst, daß Drachen mit Wasser getötet werden können. Viele Drachen sind ausgezeichnete Schwimmer. Wigolant etwa, so sagt man, lebte jahrelang auf einer kleinen Schäre im Osten von Lalha, die bei jeder Sturmflut überspült wurde. Die Sangrati, die als Drachenreiter bekannt sind, reiten natürlich keine Drachen, sondern Drachinger. Einen ausgewachsenen Drachen zu reiten, wäre nicht nur Selbstmord, sondern unmöglich. Welcher Drache würde schon so etwas erlauben? Obwohl man natürlich auch da Sachen gehört hat, Edhrik der Drachenherr und so weiter... Aber zurück zu den Drachingern.


Nachdem sich die Drachinger einige Zeit in Khinea unter der heißen Wüstensonne mit Wärme aufgetankt und einige Sandtiere gefressen haben (ab und zu erwischen sie auch mal ein unaufmerksames Sangrati-Kind), buddeln sie sich an einer ruhigen Stelle ein. Dort legen sie sich für ein paar Jahrhunderte schlafen. Warum? Ja, sagt mal, habt ihr keine Bildung mehr heutzutage? Also mal ganz langsam: es gibt ja schlaue Menschen, die zu Libellen auch Drachenfliegen sagen. Was meint ihr wohl, warum, hm? Weil sie meterlang sind, scharfe Zähne haben und Feuer speien? Kaum, oder? Nein, sondern weil sie sich wie Drachen nach dem Schlüpfen erst als Larve - oder Drachinger - wiederfinden, dann wie verrückt fressen und... na? Aus der Larvenhaut ausschlüpfen! Was sonst, hä? Lernen, wie man Birkenpulver für die Damenwelt herstellt oder welche Fische am besten schmecken? Bitte!

Also, irgendwann schlüpfen aus den Larven Schlupfdrachen. Die müssen erst mal kräftig fressen, ein Schlupfdrache ist nämlich auch nicht größer als ein Drachinger. Sogar kleiner, weil sonst in der Larvenhaut kein Platz für die Flügel gewesen wäre, klar? Wenn also von räuberischen Drachen die Rede ist, sind das meistens Schlupfdrachen. Die müssen nämlich viel fressen, um zu wachsen. Und ob sie nun Hirsche oder Pferde oder Menschen erwischen, ist ihnen allgemein recht gleichgültig. Sie haben Hunger, also nehmen sie sich eben, was gerade so im Weg rumsteht. Die Schlupfdrachen wachsen also, und dann sind sie richtige Drachen. Wie Kalém oder Wigolant oder eben auch Khirlik, all die, die man so aus den Sagen und so kennt.


Drachen hören übrigens nie auf zu wachsen. Das heißt, wenn ihr mal einem Drachen begegnet - was ich für recht unwahrscheinlich halte, aber nun gut - , so könnt ihr an seiner Größe sein Alter erkennen. Ein Drache von der Größe eines Elefanten ist natürlich nicht viel mehr als ein Schlupfdrache. Es heißt aber zum Beispiel, daß Kalém so groß ist, daß man an ihm vorbeireiten kann, ohne es zu merken. Bei Nacht, natürlich. Wenn einem nicht so auffällt, daß der seltsame gezackte langgestreckte Hügel schwarz glänzend und schuppig ist. Außerdem findet man Drachen eh sehr selten auf offenem Gelände, wo Menschen leben. Sie bleiben unter sich.

Wenn Drachen schlafen, und das tun sie recht häufig, so suchen sie sich eine geschützte Stelle - ein abgelegenes Tal, eine Höhle oder so was in der Richtung. Schätze sammeln tun nur wenige. Naja, es gibt ja auch räuberische Menschen, also laßt uns nicht verallgemeinernd sagen, daß Drachen Schätze stehlen. Die sagen ja auch nicht, daß alle Zweibeiner blutrünstig sind. Oder vielleicht sagen sie es doch. Wie auch immer

Tja. Drachen. Man kann so viel über sie sagen...


Zum Beispiel, daß sie nicht alle rot sind. Wie gesagt, Kalém ist eindeutig schwarz. Nicht purpurn, nicht magenta, nicht scharlach, auch auf keinen Fall giftgrün oder grasfarben. Er ist schwarz. Dunkel. Wie die Nacht, nur etwas dunkler. Schwarz eben. Kann doch nicht so schwer sein. Natürlich gibt es auch rote Drachen. Und grüne. Wigolant ist blau. Da fällt mir gerade ein Gedicht ein:


Drachen, schwimmend auf der Morgenluft,

Flügel gespreizt,

Köpfe im Himmel.

Reflektierte Sonnenstrahlen,

Tausendfarbige Diamanten.

Ein Regenbogen mit feuergefülltem Maul

und Gedanken voller Weisheit.


Wigolant der Blaue.

Saphire auf kristallenem Eis.

Und Dharveddin Großflügel,

König des Nordens,

dessen Kopf ist wie eine Insel,

der den Sturm regiert

mit seinem Lachen.


Kalém der König,

Fürst der Drachen.

Der Älteste, Größte, Mächtigste.

Vergessen bald sein Bruder,

Khirlik, der Zerstörer,

Todesfluch der Shedali.

Vergessen ist Wiyteli.


Ach ja. Das sind so die vier größte Drachen, die man heute so kennt. Vier Drachen, drei Farben, Wigolant blau, die Brüder schwarz... Dharveddin soll sehr lustig aussehen, nämlich purpur-violett gestreift. Soll's geben...

Es gibt einige extrem gescheite Menschen, die einen Zusammenhang zwischen Farbe und Wesen eines Drachen ziehen, so ungefähr: die Roten sind die gefräßigen Räuber, die Schwarzen die ruhigen Denker, die Grünen die draufgängerischen Abenteurer, die Blauen die weisen Magier, und so weiter mit dem Unfug. Klar könnte man auch bei Shedali sagen: die Rothaars sind alle Kämpfer - dann wären sie, nebenbei gesagt, schon lange ausgestorben, wenn sie nur zum Kämpfen Zeit hätten... - , oder die Dunkels wohnen alle in Städten - frag mich nur, wovon die dann leben, wenn die keine Landwirtschaft betreiben. Oder sollten das die Blondies machen, die eh nur fischen und Schafe hüten? Ihr seht schon, mit Vorurteilen muß man vorsichtig sein.


Zum nächsten Punkt. Das Drachenfeuer. Oh, werden jetzt viele sagen. Endlich! Das ist ja auch die Hauptsache. Fein, wenn ihr meint. Eigentlich würde euch ein Drache wohl eher erklären, daß seine Flügel das wichtigste sind. Klar, werdet ihr jetzt sagen, aber die haben Falken ja auch. Stimmt schon. Falken haben die auch. Und Adler, Geier, Raben, Krähe, Dohlen, Spatzen... Ich kannte mal einen kleinen Spatzen, der war wirklich drollig. Hatte einen verletzten Flügel, da hab ich ihn gepflegt, hinterher war das Vieh so zahm wie ein Hühnchen. Flatterte mir immer hinterher und so, sein ganzes Leben lang. Hab ihn Flatterfeder genannt. Der hatte so einen drolligen Fleck im Gesicht... unheimlich süßes Vieh gewesen. Ach ja, ich vermisse ihn immer noch.

Aber ich war beim Drachenfeuer. Es gibt verschiedene Feuer. Einmal das ordinäre Kaminofenfeuer, das die Roten zum großen Teil haben. Eigentlich ist das Feuer nicht so wichtig. Die Drachen benutzen es nur in absoluten Notfällen zur Selbstverteidigung oder wenn sie nicht alle beisammen haben, wie Khirlik, der Wiyteli zerstörte. Der hatte kein normales rotes Feuer, sonder grünes, weil er doch wie sein Bruder Kalém schwarz war. Und Schwarze haben grünes Feuer. Punkt. Immer, niemals anders. Fertig. Grün. Das Lustige bei grünem Feuer ist, daß es nicht einfach brennt. Neeee, das tötet viel schneller. Und wenn es dich nicht gleich grillt, dann - jetzt kommt der Clou - verwandelt es dich in Stein. Ernsthaft!

Ihr solltet mal nach Wiyteli gehen, ich schätze, ihr findet dort einige hundert Statuen rumstehen. Der Nachteil dieser Skulpturen ist nur, die waren alle mal am Leben. Ungemütlich, näch? Stellt euch mal vor, du wolltest gerade Milch holen gehen, zack kommt ein schwarzer Drache, pustet dich an und du bist eine lebende Statue für immer. Naja, das sagt man jedenfalls. Du lebst für immer und ewig, gefangen im Stein, der langsam von Wind und Wetter zerrieben wird. Hui, Kinder, ihr deprimiert mich richtig. Jetzt zurück zum wissenschaftlichen Teil. Also:

Es gibt bestimmt ein Dutzend Feuerarten bei Drachen. Wigolant hat weißes Feuer. Das verbrennt dich nicht, das läßt dich erfrieren. Ist also sozusagen eine Art Anti-Feuer. Aber Wigolant ist eh ein komischer Kauz. Oder Drache. Glaube, ihn mit einem Kauz zu vergleichen, ist auch von der Größe her nicht ganz korrekt. Der hat ja schon ein paar Jahrtausende auf dem Buckel. Natürlich hat er keinen. Keinen Buckel, meine ich. Drachen sind sehr elegante Wesen die können keinen Buckel gebrauchen.


Ach ja, Drachen. Sind so selten geworden, seit es sogenannte Helden gibt, die die Schlafstelle eines Drachen ausspionieren und ihn im Schlaf umbringen. Die Kleinen, meine ich. Bei den Großen haben sie eh keine Chance. Wenn ihr mich fragt, hatte Randhvari einfach nur Glück. als er Khirlik erschlug. So ein Riesenkerl! Ich meine natürlich Khirlik. Der läßt sich doch nicht von einem dahergelaufenen Dunkelskrieger erschlagen. Neee, da muß noch mehr dahinter gewesen sein... Muß so groß gewesen sein wie Kalém oder Wigolant. Dem bin ich übrigens mal begegnet, als ich noch sehr jung war. Wigolant, meine ich. Das heißt, ich habe ihn gesehen. Nicht mit ihm gesprochen, ich bin doch nicht wahnsinnig. Ach ja, Drachen....


Wie bin ich eigentlich auf Drachen gekommen? Weiß es einer? Hm? Kinder, man sollte euch in den Märchenunterricht und nicht in den Geschichtsunterricht stecken! Also, Wiyteli wurde im Jahre 2856 nach der Befreiung aus Shuk von Khirlik zerstört...



Aus einem Vortrag des Geschichtsmeisters Dayridil, Professor an der Bardenschule auf Anorivrin, der sich vor einiger Zeit entschlossen hat, seine Kenntnisse über Drachen zu vertiefen und von dem man seit Beginn der Expedition nichts mehr gehört hat...