Eğrik Dayilkishal

Eğrik der Drachenherr

7: Der Drachenkönig

So kam es, dass Eðrik seinen Weg gen Osten alleine mit Kalém fortsetzte, getrennt von seinem Freund Awnkledan. Ihm war gar nicht wohl dabei, den geschwächten Drachen auf dem einsamen Felsen mitten im Meer zurückzulassen, und noch unwohler war ihm bei dem Gedanken, eine womöglich sehr lange Zeit mit dem Fürsten der Drachen zu verbringen, denn Kaléms Erscheinung und Auftreten flößte ihm mehr als nur Respekt ein. Zunächst jedoch klammerte er sich an den rauen Schuppen des Drachen fest, der mit hoher Geschwindigkeit gegen den widrigen Wind kreuzte, stetig, schweigend und zunehmend grimmiger.

Als die Sonne schon unter den Horizont gesunken war und die ersten Sterne am Himmel zu funkeln begannen, erspähte Eðrik im weichenden Licht am Horizont einen dunklen Schatten.

„Eine Insel!“, rief er aus und zeigte nach vorne.

Der Drache unter ihm grollte leise. „Natürlich ist da eine Insel, glaubst du, ich habe Lust, noch eine Nacht durchzufliegen? Wir rasten dort.“ Damit schwieg er wieder, und Eðrik konnte nur mit Staunen verfolgen, wie der dunkle Schatten mit unglaublicher Geschwindigkeit Formen annahm, Farben bekam und schließlich direkt vor ihnen lag, so dass Kalém in einen steilen Sinkflug überging und auf einem Hügel in der Mitte der Insel landete, der aus einem Wäldchen hervorragte. Eðrik sprang von seinem Rücken, und sogleich machte der Drache einen Buckel, spreizte seine Klauen, reckte und streckte sich und gähnte schließlich, worauf Eðrik beim Anblick der riesigen scharfen Zähne ziemlich mulmig wurde. Schließlich aber faltete Kalém seine Flügel zusammen, legte sie eng an seinem Körper und kugelte sich zu einem überraschend kleinen Knäuel aus tiefschwarzen Schuppen zusammen.

„Du solltest schlafen, Zweibein“, grollte er und schloss damit die Augen.

So lehnte sich Eðrik unglücklich gegen einen Baum und wickelte sich eng in seinen Umhang und vermisste Awnkledans freundliches Augenfunkeln sehr.



Der Morgen war schon weit vorangeschritten, als er erwachte, und Kalém war nicht zu sehen. So machte sich Eðrik daran, etwas Essbares zu suchen und fand es in Form von Beeren, Seetang und Muscheln. Während er noch am Meer entlangspazierte, das während seines Schlafes recht nah an das Wäldchen mit dem Hügel herangekommen war, und Muscheln suchte, kam Kalém zurück, landete dicht neben ihm und grummelte.

„Was ist los?“, fragte Eðrik.

„Nichts zu sehen. Sie müssten schon hier sein.“

„Die Goldene und Awnkledan?“

„Nein, die Meereselfen und Wassermädchen!“, grollte der Drache ärgerlich. „Goldene sollte eigentlich zu schlau sein, um sich vom Wind dermaßen an der Schnauze herumführen zu lassen.“

„Denkst du, es ist ihnen etwas zugestoßen?“, erkundigte sich Eðrik besorgt.

„Kaum. Sie werden irgendwo im Süden sein.“

„Und was tun wir nun?“

Kalém schaute Eðrik zum ersten Mal direkt an. „Weiterfliegen natürlich. Sie zu suchen hat keinen Zweck, sie können überall zwischen den Inseln nördlich von uns und den Lagunen des Südlandes sein, das dein Volk noch nicht kennt.“ Als er sah, dass die Aussicht auf einen längeren Flug Eðrik nicht zu begeistern schien, wurden seine Augen sanfter. „Keine Sorge, Zweibein. Ich werde dich nicht heimlich ins Meer kippen.“

„Das beruhigt mich, wenn auch nicht viel.“

„Dann hilft dir vielleicht, dass wir den Weg nicht alleine fliegen müssen. Auf meinem Erkundungsflug habe ich meinen Vater getroffen, der uns begleiten wird. Sobald wir sicher auf Aylinn angekommen sind, wird er deinen Freund und Goldene suchen. Wenn er hierher kommt, brechen wir sofort auf, du solltest also deine Sachen zusammensuchen.“

Von dieser Aussicht keineswegs beruhigt, erklomm Eðrik den Hügel, um seine Wasserflasche und seinen Umhang zu holen, den er wegen der warmen Sonne zurückgelassen hatte. Kaum hatte er die Flasche mit frischem Wasser aus einer Quelle gefüllt, als sich ein großer Schatten vor die Sonne schob und nahe bei der Insel ins Wasser glitt, wobei beachtliche Wellen an das Ufer der kleinen Insel klatschten.

„Komm, Zweibein!“ hörte er Kalém rufen. „Wir brechen auf!“

Gegen den riesigen schwarzen Körper, der wie eine zweite Insel in der Brandung lag, sah Kalém überraschend klein und zierlich aus. Es schien, als sei sein gesamter schon sehr großer Körper nur ein Fünftel des gigantischen Wesens, doch wenigstens in ihrer schwarz glitzernden Färbung glichen sich die beiden. Scheu erklomm Eðrik den Rücken Kaléms, der ein paar Worte auf der Drachensprache mit seinem Vater wechselte. Hatte Eðrik Kaléms Stimme mit einer großen Glocke verglichen, so klang die Stimme des uralten Drachen wie ein dröhnender Herzschlag der Erde selbst, und obwohl er leise sprach, vibrierte doch die Insel ein wenig bei jeder Silbe. Dann schließlich breitete er seine unglaublichen Flügel aus und durchschnitt die Luft mit ihnen, wobei Fontänen von Wasser aufspritzen, bis er genug Widerstand fand und sich in die Luft schwang.

Kalém folgte ihm, wobei er jedoch Eðrik noch zuraunte: „Benimm dich gut, Zweibein. Ihn zu verärgern, wäre nicht ratsam.“

„Auf den Gedanken wäre ich von alleine nicht gekommen.“

„Ich meine es ernst. Mit mir kannst du noch spaßen, doch versuche nicht das gleiche beim Drachenkönig. Seine Gestalt mag zwar der meinen gleichen, doch das ist nur äußerlich, denn in Wahrheit ist er der Bruder Dalas.“

Hierauf beugte sich Eðrik geschockt über den Hals des Drachen und versuchte, einen Blick in Kaléms Augen zu erhaschen.

„Ganz recht, Zweibein. Dieser Drache dort ist niemand anders als Kishéal selbst, der Schöpfer meiner Art und einer der mächtigsten unter den Visha.“

„Dann werde ich deinen Rat nach bestem Können befolgen“, murmelte Eðrik verstört.

Kalém schnaubte belustigt aus. „Mach dir keine Sorgen, Zweibein. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Der König ist so gutmütig wie nur irgendeiner von uns, und geduldiger als die meisten ebenfalls. Eher musst du dich vor mir hüten, denn ich werde dir keine Respektlosigkeit ihm gegenüber nachsehen.“

„Wenig weißt du über die Menschen, wenn du glaubst, dass wir ein so mächtiges Wesen respektlos behandeln würden, es sei denn, dass wir es nicht besser wüssten.“

Hierauf lachte Kalém laut auf und beschleunigte seinen Flug, um mit dem ruhig dahinfliegenden Drachenkönig mitzuhalten.


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