Nach einigen Tagen beschlossen Awnkledan und Jayenkledan, die Inseln im Westen der Dracheninsel zu erkunden. Eðrik wollte noch eine Weile bei den Drachingern bleiben, denn einige unter ihnen waren ihm sehr ans Herz gewachsen und begannen gerade, sich zu verpuppen, um in einigen Jahrzehnten als junge Schlupfdrachen das Licht der Welt zu erblicken.
„Nur ein paar Tage“, bat er daher die beiden Drachen, „bis sie ihre Hülle fertig haben und ich weiß, dass sie sicher sind.“
„Wie du möchtest, Bruder Zweibein“, brummelte Awnkledan gutmütig, „wir kommen dann auf den Rückweg vorbei, um dich abzuholen.“
„Danke, geflügelter Bruder, und auch geflügelte Schwester.“
Die beiden Drachen verabschiedeten sich herzlich von ihm und schwangen sich in die Luft, und Eðrik sah nach seinen Drachingern.
Später am Tag zog von Westen her ein heftiger Sturm auf, wie es sie nur an den Küsten in der südlichen Welt gibt, und Eðrik verkroch sich in der Höhle auf einem Berg der Insel, die ihm die Drachinger gezeigt hatten. Der Sturm wütete etliche Stunden lang, entwurzelte uralte Bäume und durchweichte die Berghänge, so dass die Drachinger, die noch nicht dabei waren, sich zu verpuppen, in die Tiefe der Lagune flüchteten, wo das Wasser sie vor fallendem Geröll und Ästen schützte. Andere versteckten sich bei Eðrik in der Höhle und harrten geduldig bei ihm aus, bis der Donner leiser wurde und der Wind abflaute und der Regen nur noch als feiner Niesel fiel.
Da verließ Eðrik die Höhle und schaute vom Berg hinab auf die verwüstete Insel und auf die schwarzen Wolken, die eilig vor dem Wind her nach Osten zogen, aufs Festland zu. Er wagte es nicht, nach Westen zu blicken, dorthin, woher der Sturm gekommen war und wohin vor wenigen Stunden die beiden Drachen geflogen waren.
Am Abend sah Eðrik einen großen, schwarzen Schatten von Südwesten herbeifliegen und er eilte hoffnungsvoll zum Strand, doch es war nicht Kishéal, der dort landete, sondern der Drachenfürst Kalém. Kaum, dass er Eðrik erspäht hatte, ließ er sich auf die Lagune herab.
„Mein Vater ist auf der Suche nach deinen Freunden“, rief er dem herbeihastenden Eðrik schon von weitem zu. „Ich werde bei dir warten, bis wir mehr wissen.“
„Also sind sie wirklich in den Sturm geraten“, murmelte Eðrik bedrückt.
„So scheint es jedenfalls“, brummte Kalém, „der Wind ist unser Freund, doch manchmal geht sein Temperament mit ihm durch.“
Eðrik antwortete nicht, sondern schwamm zu Kalém und erkletterte seinen großen Körper, um sich zwischen den Flügeln gegen die schwarzen Schuppen zu kuscheln. Die Nacht kam mit ihren freundlichen Sternen, und Eðrik schlief trotz aller Sorgen ein.
Die gewaltige Stimme des Drachenkönigs weckte ihn am Morgen, und schnell erwachte er völlig, als Kaléms Körper beim Antworten vibrierte. Kishéals Kopf lag neben dem seines Sohnes und schaute Eðrik an.
„Der Wind hat sie gegen eine Steilküste getrieben“, sagte der Drachenkönig mitleidig. „Die letzte Flut hat ihre Körper mitgenommen für die Wassertiere – so ist dieses Unglück wenigstens für einige Wesen von Nutzen.“
Eðrik konnte nichts sagen.
„Klettere zu mir herüber“, sagte Kishéal freundlich. „Das Leben endet eines Tages: Das ist eines der ersten Mysterien, das die Erdwesen begriffen haben. Selbst Kinder verstehen es schon, obwohl es keineswegs das einfachste der Geheimnisse der Welt ist. Nun komm her, ich möchte mir dir reden, Eðrik Drachenfreund.“
Eðrik gehorchte und krabbelte wie taub über Kaléms ausgestreckten Flügel auf Kishéals Kopf. Mechanisch hielt er sich an den riesigen Schuppen fest, während sich der Drachenkönig in die Luft erhob. Als sie weit oben auf dem jetzt freundlichen Wind ritten, kamen Eðrik endlich die Tränen, und er ließ sie eine ganze Weile lang fließen.
Schließlich landete der Drachenkönig neben einer der vielen kleinen Inseln des südlichen Inselreichs und ließ Eðrik an Land gehen, wo dieser sich in den von der Sonne durchglühten Sand fallen ließ. Er weinte nicht mehr, denn seine Tränen waren alle, aber in ihm weinte es noch lange weiter.
„Was nun, Eðrik Drachenbruder?“, fragte Kishéal sanft. „Dein geflügelter Bruder ist Opfer seines Wesens geworden: Nur ein Drache wäre in diesen Sturm geflogen, und nur ein junger Drache hätte nicht erkannt, dass dies zu gefährlich ist. Doch solche Dinge geschehen nun einmal und das nicht gerade selten. Du aber bist jetzt hier gestrandet, wo keine Menschen leben, und das geschieht nicht oft. Was sollen wir jetzt mit dir tun?“
„Ich weiß es nicht“, seufzte Eðrik und schloss die Augen. „Es ist mir auch gleich. Ich wollte mit Awnkledan und Jayenkledan durch die Welt streifen. An das, was ich danach tun könnte, habe ich nie gedacht.“
„Ich könnte dich zurück zu deiner Familie bringen“, sagte Kishéal, „nach Yador, wo du aufgewachsen bist, oder aber an jeden anderen Ort der Welt.“
„Ich glaube nicht, dass ich je wieder an nur einem Ort der Welt leben kann“, gab Eðrik traurig zurück, „nicht, nachdem ich sie vom Rücken eines Drachen gesehen habe und weiß, wie viele Orte es noch zu entdecken gibt. Ich bin nun ein Drachenfreund, aber gefangen im Körper eines Menschen, und Menschen haben keine Flügel.“
„Menschen freunden sich auch nicht mit Drachen an“, antwortete Kishéal.
„Manche schon“, sagte Eðrik.
„Manche schon“, echote Kishéal mit einem sanften Glimmen in den Augen. „Und manche Menschen unterscheiden sich so stark von anderen Menschen, dass sie am Ende vielleicht gar keine Menschen mehr sind.“
Eðrik sah den Drachenkönig verwirrt an.
„Ich habe dich liebgewonnen auf unseren Reisen“, fuhr Kishéal fort, „und mir gefallen die Antworten, die du auf meine Fragen hast. Mir gefällt es, wie Awnkledan über dich gesprochen hat und wie Kalém mit dir redet, als wärest du wirklich mehr als ein schlaues Tierchen auf zwei Beinen, denn normalerweise haben meine beiden Söhne für Menschen nicht viel übrig. Du schaust mir aus wie einer unserer Drachinger: gefangen in einer Hülle, die noch nicht wirklich passt, weil ihr einiges fehlt. Deswegen müssen Drachinger einige Jahrzehnte schlafen, damit ihr Körper zu dem eines echten Windbruders wird. Habe ich Recht?“
„Wer bin ich, dein Wort anzuzweifeln, großer König?“, antwortete Eðrik. „Auch, wenn ich es nicht verstehe.“
„Vielleicht verstehst du diese Frage: Kannst du noch unter Menschen glücklich leben?“
„Ich weiß es nicht“, seufzte Eðrik, „ich werde es wohl versuchen müssen.“
„Warum wirst du dies tun müssen?“
„Weil ich ein Mensch bin und sich daran so schnell nichts ändern wird.“
„Schnell nicht“, gab Kishéal zu, „denn das vermag selbst ich nicht. Doch wenn du dich vierzig Jahre gedulden kannst, wirst du als einer von uns erwachen und die Lücke füllen, die der Tod deines Freundes in unsere Reihen gerissen hat, falls du dies möchtest.“
„Ein Drache? Ich?“ Eðrik lachte und schüttelte den Kopf. „Wer bin ich denn schon, dass du mir ein solch großes Angebot machst? Ein Bauernjunge von einem Hof mit schlechtem Land und viel zu vielen Kindern!“
„Und der Freund zweier Drachen“, Kishéals Augen schmunzelten, „und wie du gelernt hast, ist das mehr, als so manch ein Drache vorzuweisen hat. Das Angebot gilt. Entscheide dich so, wie es dir richtig erscheint.“
Eðrik sah den Drachenkönig lange, lange an. „Was für eine Entscheidung kann ich da schon treffen?“, sagte er leise. „Du kanntest die Antwort schon, bevor du mich gefragt hast, und ich kannte sie, bevor ich anfing, es dir auszureden.“
Kishéals Augen glommen sanft grün. „Ich komme vorbei, wenn es Zeit für dich ist, und sollte ich verhindert sein, schicke ich Kalém zu dir. Bis in vierzig Jahren, Zweibein aus Yador, und dann werde ich dich mit einem neuen Namen ansprechen: Eðrik Dayilkishal, der Drachenfürst, denn ich will dich als mein Eigen annehmen und gleichstellen mit meinem Sohn Kalém. Und nun schlaf.“
Der Drachenkönig breitete die Flügel aus, und Eðrik fühlte, wie ihn die Müdigkeit überkam. Er kroch noch einige Schritt weiter ins Innere der Insel, bevor er zu Boden sank und tief und fest einschlief.
Und als er wieder aufwachte, zwängte er seinen Körper aus der harten, viel zu engen Hülle, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft, um die beiden mächtigen schwarzen Körper zu grüßen, die dort auf ihn warteten.
Und von dem Tage an ist Eðrik der Drachenherr ein Drache unter vielen, und doch ist er der einzige Drache, dessen wahrer, geheimer Name der eines einfachen Bauernjungen aus Ostyador ist.
Eine Karte mit Eðriks Reiseroute
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