Eğrik Dayilkishal

Eğrik der Drachenherr

13: Fremde Küsten

Wie soll man beschreiben, was es heißt, auf dem Rücken des Vaters aller Drachen über die Eilande und Riffe des Inselreiches hinwegzugleiten? Eðrik fand dafür niemals Worte, und er versuchte auch gar nicht wirklich, sie zu finden. Er genoss einfach den sanften, schnellen Flug und den Blick auf Blau und Grün unter ihm. Sie flogen sehr hoch, so hoch, dass Eðrik nicht selten der Schwindel ergriff und er die Augen schließen musste, doch nach einigen Stunden hatte er sich daran gewöhnt und freute sich über die Aussicht, die sich ihm darbot. Der Wind war eiskalt in dieser Höhe, und wenn sie durch die Wolken stießen, so hafteten danach feine Eiskristalle an Eðriks Kleidung.

„Geht es dir gut, Eðrik aus Westyador?“, vibrierte die Stimme des Drachenkönigs unter ihm.

„Sehr gut, hoher Herr!“, rief Eðrik gegen den frostigen Wind, und der Drachenkönig lachte.

Nach einer Weile senkte er sich hinab, so sanft wie eine kleine schwarze Feder trotz seiner Größe, und glitt hinab aufs Meer.

„Schau nach Westen“, sagte er, und kleine Wellen liefen vor ihm fort, als sei seine mächtige Stimme ein Seebeben.

Eðrik gehorchte und erblickte in einiger Entfernung eine weiße Linie am Horizont, die sich aus dem tiefen Blaugrün des Meeres erhob, dessen Farbe der Awnkledans ähnelte. „Was ist das?“, fragte er.

„Das ist eine Küste des Südens“, antwortete Kishéal. „Wir sind weit entfernt von Yador und dem Gefahrenberg, wo der Verstoßene lebt, doch dies ist immer noch dasselbe Land.“ Bevor Eðrik etwas sagen konnte, faltete der Drachenkönig die Schwingen zusammen und schlängelte sich rasch durch das Wasser näher an die weiße Linie heran. Als sie sich der Linie näherten, erkannte Eðrik, dass es in Wirklichkeit hellgraue Felsen waren, die sich aus dem weiten Meer erhoben, und hinter ihnen sah er das Grün von Bäumen ganz wie die Wälder seiner Heimat. Doch die Luft hier war anders als in Yador, denn wie auf den Inseln war sie sanft und warm, und die Fische, die neugierig um den Körper des Drachenkönigs herumtanzten, ähnelten nicht den Fischen Yadors.

Kishéal schwamm bis zu einem Riff, das einige hundert Schritt vor der Küste lag, und schob sich halb hinauf. Eðrik kletterte vom Drachen hinab, recht froh, wieder seine Füße benutzen zu können nach dem langen Ritt auf dem Rücken eines Drachen. Von der Kante der Klippen glitten immer wieder Schemen hinab, und nach einer Weile erkannte Eðrik, dass es keine Vögel waren, wie er zunächst gedacht hatte, sondern etwas, das ähnlich aussah wie Menschen.

„Man kann sie wohl Flugler nennen“, sagte Kishéal neben ihm. „Zumindest lautet das Wort, das wir für sie haben, ähnlich, wenn man es in deine Sprache übersetzt. Wie wir sind sie Windfreunde, und wie du haben sie zwei Beine und zwei Arme.“

Sie schauten eine Weile lang den Gestalten zu, die auf den starken, warmen Windböen hinab aufs Wasser glitten, um Fische zu fangen, und dann wiederum die Klippen erklommen, um sich oben auszuruhen, bis sie wieder zur Jagd hinabstießen.

„Ich habe noch nie von ihnen gehört“, sagte Eðrik.

„Es gibt vieles, von dem du noch nie gehört hast“, antwortete Kishéal, und seine großen grünen Augen glitzerten. „Oder weißt du, wie der Berg der Gefahr, der Irdena, entstanden ist? Weißt du, warum viele unserer Jungen in der Wüste schlüpfen und nicht nur im Wasser wie einst? Weißt du, warum es die Welt gibt?“

Eðrik antwortete eine Weile nicht. „Nein“, sagte er dann, „aber du bist ein Gott, und es ist nicht erstaunlich, dass Götter solche Dinge wissen, denn wenn sie es nicht wissen, wozu sind sie dann Götter?“

Kishéal grollte ein leises Lachen, das das Riff erzittern ließ, und dann wurde Eðrik plötzlich schwindelig und er musste zwinkern, und als sein Kopf wieder standhaft war, war der gigantische Drachenkönig plötzlich verschwunden, und an seiner Stelle stand ein fremdartig aussehender Mensch mit dunklen Haaren und Kishéals grünen Augen.

„Es stimmt wohl“, sagte er, „dass wir Götter mehr wissen als ihr Menschen. Meine Kinder jedoch wissen von den meisten Dingen ebensoviel wie wir, und von etlichen mehr, als es die meisten meiner Geschwister je lernen werden.“

Eðrik starrte ihn nur stumm an.

„Die Götter, wie du sie nennst, sind nicht so verschieden von vielen Menschen“, sagte Kishéals menschliche Gestalt, während sie nachdenklich die Klippen hinaufblickte, „denn die meiste Zeit verbringen sie mit unnützen Dingen, die mit Eitelkeit und Stolz und Macht zu tun haben.“

„Drachen tun das nicht“, wagte es Eðrik endlich, sein Schweigen zu brechen.

„Nein“, antwortete Kishéal, „Drachen tun das nicht. Und warum nicht?“

„Weil sie nichts besitzen“, sagte Eðrik, „nichts außer ihrem Namen; und weil sie auch nichts besitzen wollen, denn alles, was sie brauchen, finden sie auf der Welt, und wer würde einem Drachen Grenzen setzen und ihm am Überqueren dieser Grenzen hindern wollen?“

„Dann sind Drachen also grausame, furchterregende Wesen, die die Menschen fürchten müssen? Oder weshalb wagen es Menschen nicht, sie am Betreten ihrer Länder zu hindern?“, fragte Kishéal und wandte seinen Blick fort von der Küste und in Eðriks Gesicht hinein, und Eðrik war wie gebannt von den uralten grünen Augen, die in seine blickten.

„Sie können furchterregend sein“, antwortete er schließlich, „und deswegen fürchten Menschen sie auch, obwohl sie bisher keinen Grund dafür haben.“

„Und weshalb haben die Menschen keinen Grund dafür?“, fuhr Kishéal mit seinen Fragen fort.

„Weil Drachen die Menschen nicht angreifen“, antwortete Eðrik, „denn solange die Menschen den Drachen keine Grenzen setzen, haben die Drachen keinen Grund für Gewalt. Jedoch“, fügte er nachdenklich hinzu, „wenn das so ist, wieso hat uns dann der Drache am Irdena vertrieben, als verteidige er sein Land?“

Die grünen Drachenaugen in Kishéals Menschengesicht erblassten leicht. „Ja“, sagte er leise, „das ist eine gute Frage.“

Und dann sagte er nichts mehr, sondern wandelte seine Gestalt und lag als riesiger Drachenkönig vor Eðrik. „Steig nun auf, Eðrik Drachenfreund“, sagte er etwas traurig, „dies ist kein Ort zum Schlafen für Menschen, und der Abend ist nah.“

Und wirklich, hinter den Klippen begann sich die Sonne bereits zu senken, und die Schatten der Felsen auf dem Wasser wurden länger.

Mit Bedauern erklomm Eðrik den Rücken des Drachenkönigs. „Wie schön diese Felsen wohl im Sonnenuntergang aussehen müssen“, seufzte er.

„Das tun sie“, antwortete Kishéal, so dass alles um sie herum vibrierte, „und eines Tages wirst du es vielleicht sehen. Doch nun lass mich einen sicheren Platz finden, an dem Zweibeiner aus Yador in Ruhe schlafen können.“

„Wenn man mit dem Drachengott fliegt“, schrie Eðrik gegen die Winde an, die sich erhoben, als Kishéal seine Schwingen ausbreitete und sich in die Lüfte erhob, „dann erscheint mir jeder Ort der Erde sicher genug dafür!“



Eðrik und der Drachenkönig verbrachten die Nacht auf einem Eiland vor der Küste des Festlandes. Am nächsten Morgen fing sich Eðrik einen Fisch und nahm als Wegzehrung noch Früchte mit, und dann bestieg er abermals den Rücken des Drachenkönigs und dieser schwang sich wieder in die Luft.

Diesmal ging der Flug noch weiter nach Süden und war dabei ostwärts gerichtet, fort vom Festland. Zunächst flogen sie daher der Sonne entgegen, so dass Eðrik die meiste Zeit die Augen schließen musste, doch je weiter und weiter sie flogen, desto mehr wanderte die Sonne auf ihrem Weg über den Himmel, und mittags schließlich stand sie fast seitlich zu ihrem Flug.

„Wohin geht es diesmal, Herr?“, fragte Eðrik schließlich. „Mir scheint, wir fliegen immer weiter fort von Awnkledans und Silberblaus Insel.“

„Du hast ein gutes Gespür für Richtungen“, erklang die Stimme des riesigen Drachen unter ihm, „denn ich will dir heute wieder etwas zeigen. Die beiden Kinder werden dich noch einen weiteren Tag entbehren können.“

Damit hatte der Drachenvater sicherlich recht, und so gab sich Eðrik damit zufrieden, rasch und hoch über ewiger Weite der See hinwegzufliegen. Am Nachmittag schließlich sank Kishéal sachte hinab, als am Horizont eine große Insel erschien, und dann verlangsamte er seinen Flug, um neben ihr mit überraschender Sanftheit ins Wasser zu gleiten.

Jetzt, wo der kalte Flugwind der Höhe nicht mehr an seiner Kleidung zerrte, brach Eðrik der Schweiß aus, denn die Luft hier war noch wärmer als an der Küste der Flugler. Er sprang also vom Rücken Kishéals ins Wasser und schwamm an Land, wo er seinen Umhang und seine Hosen an einer Palme zum Trocknen aufhängte und nur im Unterzeug umherlief.

„Schau ans andere Ende der Insel!“, rief Kishéal ihm zu. „Ich werde dorthin schwimmen.“

Eðrik tat, wie ihm geheißen, und erreichte alsbald einen unglaublich breiten und langen Strand, dessen gelbweißer Sand in der sich langsam senkenden Sonne hell gleißte. Am Strand lagen etliche seltsame Geschöpfe, die den Waranen dieser Gegend ähnelten, mit ihren stummeligen Auswüchsen an den Schultern jedoch auch an Drachen erinnerten. Einige der Geschöpfe hoben träge die Köpfe, als er sich näherte, aber sie ließen sich nicht weiter von ihm stören.

Einige hundert Schritte vom Strand entfernt lag der mächtige Körper des Drachenvaters bereits im Wasser. Die Insel hatte hier eine weite Bucht, die durch ein Riff fast vollständig vom Meer abgegrenzt war. Gerade jetzt sah Eðrik, wie zwei der seltsamen Geschöpfe aus dem Ozean emporschnellten und ihre Körper aufs Riff warfen, es überquerten und schließlich in die Lagune glitten, um auf ihre sich sonnenden Artgenossen zuzusteuern. Ein weiteres Wesen tauchte plötzlich in der Mitte der Lagune auf, es schien durch einen unterirdischen Tunnel im Riff geschwommen zu sein.

Die Neuankömmlinge wurden mit Nasenstupsen und Grunzen begrüßt, und es dauerte eine Weile, bis wieder Ruhe einkehrte und jedes Wesen einen Platz für sich gefunden hatte.

Dann, weil er sah, dass die Sonne jetzt im Sinken begriffen war, wandte sich Eðrik um und ging zurück an dem Ort, wo Kishéal mit ihm gelandet war. Abermals war der Drachenvater vor ihm da, und da die Küste hier steil und felsig war, konnte er direkt ans Ufer schwimmen und seinen mächtigen Kopf auf die Felsen legen, während Eðrik auf einem Stein saß und die letzten seiner Früchte verzehrte.

„Was sind das für merkwürdige Wesen?“, fragte er. „Zuerst dachte ich fast, es seien Drachen, doch sie können ja anscheinend gar nicht sprechen.“

„Es sind Drachen“, gab Kishéal freundlich zurück, „oder sie werden einmal Drachen sein, wenn die Zeit dafür gekommen ist: es sind Drachenlarven, die man auch Drachinger nennt. Wenn du in den Wald hineingehst, wirst du viele seltsame Gebilde sehen: das sind verpuppte Drachinger, aus denen dann die jungen Drachen ausschlüpfen. Dies ist einer der beiden Orte, an denen meine Kinder ihre Kinder zur Welt bringen; der andere Ort liegt jenseits der Fluglerküste in einer heißen Sandwüste.“

Eðrik kaute auf seiner Frucht und war beeindruckt. „Es muss schön sein“, meinte er schließlich, „wenn man nicht einfach in die Welt gestoßen wird und sich darin zurechtfinden muss, vor allem, wenn man so mächtig ist wie ein Drache. Stattdessen können sie erst die Welt kennenlernen, bevor sie wirklich sie selbst werden.“

„Ja“, stimmte Kishéal ihm zu und grollte ein Lächeln, „du solltest deinen Freund Awnkledan einmal nach seiner Zeit als Drachinger fragen. Die meisten Drachen erinnern sich mit Freude an diese Zeit zurück, denn sie ist einfach und sorglos.“

„Das werde ich tun“, nahm Eðrik sich vor, „gleich wenn ich ihn wiedersehe.“


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