Berhailk und Enval waren nun obdachlos, denn in die verhexte Hütte mit dem toten Hexenmeister wollten sie nicht mehr einkehren. Also zwang sich Berhailk noch einmal ins Innere, kramte Proviant und anderes wichtiges zusammen, und dann machte er sich auf den Weg den schmalen Pfad entlang, der ihn damals als verzweifelten Jungen zu Kaniarks Hütte gebracht hatte. Als der Pfad jedoch auf den größeren Waldweg führte, da wandte sich Berhailk nicht den Dörfern der Gegend zu, sondern ging in die andere Richtung, nach Westen, wo er vor langer Zeit zusammen mit Enval in dem kleinen Dorf gelebt hatte.
„Ich will doch mal schauen, ob da nicht doch noch jemand wieder aufgetaucht ist“, erklärte er Enval eines Abends.
„Wozu?“, fragte dieser missmutig. „Du bist jetzt ein mächtiger Hexer, was willst du mit Bauerngeschmeiß? Zusammen könnten wir eine Menge Spass haben. Willst du jetzt Ziegen züchten?“
„Ich will doch nur mal schauen, ob noch jemand von den Leuten da ist“, rechtfertigte sich Berhailk ärgerlich, „schließlich habe ich fast alle gut gekannt, und die werden sich vielleicht freuen, mich zu sehen.“
„Dann geh halt hin“, schnaubte Enval, „vielleicht kannst du auch die Toten und Verschleppten wieder herbeihexen und die Häuser heilmachen, wenn du schon mal dabei ist, und dann vergiss nicht, dich zum Hexerkönig von West-Ittar krönen zu lassen.“
„Sei nicht albern!“, knurrte Berhailk. „Ich will doch kein Hexerkönig werden!“
„Ja, eben!“, Envals Geistergestalt stand wütend auf und starrte abfällig auf Berhailk nieder. „Du hast keinerlei Visionen, Berhailk. Nach Hause gehen und schauen, ob noch Vieh oder Leute da sind? Was du nicht alles tun könntest! Ach, ich wünschte, der vermaledeite Hexer hätte nicht diesen Bannkreis um sich gehabt und mich so von seinem Haus ferngehalten, solange er da war, sonst hätte ich euch belauschen und selbst das Hexerhandwerk erlernen können!“
„Und dann würdest du dich zum Geisterhexerkönig von West-Ittar krönen lassen?“, spottete Berhailk. „Du würdest wohl von allen Bauern verlangen, dir ihre schönsten Töchter zu bringen, und die würdest du dann angaffen, weil du mehr als Gespenst eh nicht tun kannst!“
„Pah!“, fauchte Enval. „Pah, sage ich dir, Berhailk Hasenfuß! Dann sei halt zufrieden damit, Feuer anzünden zu können oder den Regen von deinem Kopf fernzuhalten – wenn das alles ist, was du in deinem Leben tun möchtest, nun denn, dann tu es alleine. Ich für meinen Teil werde mir spannendere Unterhaltung suchen als deinen Wunsch, Ziegenställe auszumisten.“
„Ja, dann geh doch!“, grollte Berhailk. „Ich für meinen Teil werde unser Dorf besuchen, und dann werde ich schauen, ob ich die armen Leute nicht aus den Händen der Sklavenhalter befreien kann!“
„Du warst schon immer ein Langweiler“, schnaufte Enval, und dann verschwand er einfach in der leeren Luft und ließ Berhailk alleine am Feuer sitzen.
„Besser ein Langweiler als ein treuloser Geselle wie du“, brummte Berhailk ins Nichts hinein und legte sich dann schlafen.
Am nächsten Morgen jedoch erschien ihm das, was er eigentlich nur aus Wut über Enval gesagt hatte, eine ehrliche Arbeit: die Verschleppten seines Volkes befreien.
„Nun denn“, knurrte er vor sich hin, während er sein Gepäck schulterte und sich auf den Weg nach Westen machte, „falls du noch hier bist, Enval, und deine Meinung geändert hast, dann lass es mich wissen. Ich werde deinen Vater von dir grüßen, falls er noch lebt, und ihm sagen, dass du anderweitig mit spuken beschäftigt bist.“
Es kam jedoch keine Antwort, und so wanderte Berhailk tagelang durch die tiefen des Waldes, ohne eine Menschenseele zu treffen. Essen fand er durch Beeren am Wegesrand und durch Tiere, die er behexte, so dass er sie fangen und braten konnte. So lebte er nicht schlecht, denn er hatte stets gutes Fleisch in reicher Fülle und Abwechslung: mal gab es Rebhuhn, dann wieder Kaninchen, dann eine Taube, dann wieder einen Fasan.
Schließlich erreichte er wieder enger besiedeltes Gebiet und wusste, dass er nun in West-Ittar war, und in den Dörfern und Höfen fand er Menschen, die ihm Brot und anderes gaben, nachdem er ihnen bei ihrem täglichen Handwerk geholfen hatte: einem Bauernpaar reparierte er die gebrochene Achse des Karrens mit einem Wink des Drachenknochens, einem anderen Hof brachte er durch einen simplen Spruch Regen auf das trockene Feld, und einem Faßbinder verdoppelte er die Holzvorräte. So sehr die Menschen sich auch vor Hexern fürchteten, so dankbar nahmen sie doch die Hilfe eines solchen entgegen, wenn es denn Arbeit ersparte und lediglich einen Brotkanten und etwas Käse kostete, und vielleicht ein Nachtquartier im warmen Heu des Stalls. So lebte Berhailk recht gut als wandernder Hexergesell, bis er schließlich auf verbrannte und zerstörte Dörfer traf, und zu guter Letzt auf sein eigenes, was nicht besser aussah als die Dörfer in der Umgebung: kein Stein schien mehr auf dem anderen zu stehen, und das verbrannte Holz vermoderte langsam, und in der Grube mit den Toten lagen nur noch bekleidete Skelette wirr durcheinander.
Berhailk übernachtete in einem Haus, das nicht ganz zerstört war, und schaute hinaus in den Regen. „Nun“, murmelte er zu sich selbst, „dies war nicht eine meiner besten Ideen, das mag sein. Dennoch weiss ich jetzt wenigstens, wie es um meine Heimat steht, und morgen kann ich mich auf den Weg nach Westen machen und meine Verwandten suchen. Sie haben mir schließlich nie etwas getan, ich dagegen habe ihnen das Leben mit meinen Streichen schwer gemacht, so ist es nur recht und billig, wenn ich etwas von meinen Schulden zurückzahle.“
Fortsetzung folgt
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